Hintergrund und Ziel

Das Digital HR Manifesto: Ein Votum für Empowerment statt rigider Prozesse

Die HR Welt setzt voll auf Digitalisierung – und vermischt administrative Effizienz mit gestalterischen Aufgaben. Ein Plädoyer für digitale Instrumente im Dienste der strategischen Personalarbeit. Das Digital HR Manifesto.

Die Digitalisierung hat sich zum heiligen Gral der Personalarbeit entwickelt. HR Manager beschwören Algorithmen und implementieren Chatbots, ohne sich zu fragen, ob diese Tools Wettbewerbsvorteile schaffen. Wir – Wissenschaftler und Personalverantwortliche großer europäischer Unternehmen – haben genau das getan. Wir haben dabei auf umfangreiches Datenmaterial, empirische Studien und eigene Analysen zurückgegriffen. Unser Ergebnis: Digitale Tools können administrative Prozesse zweifellos effizienter machen – und sollten es auch. Kritisch wird es, wenn ihre statische Systemlogik auf die strategische Personalarbeit übergreift. Denn dann werden die Kräfte behindert, die wirklich zur Zukunftsfähigkeit von Unternehmen beitragen. Das Ziel wertschöpfender Personalarbeit muss es dagegen sein, Systeme zu implementieren, die Freiräume für Entwicklung, Vielfalt und Innovation schaffen.

Illustration: Digitalisierung & Personalarbeit

Wer wirklich wagt, gewinnt

Wer nicht regelmäßig isst und trinkt, kein Handy oder kein Auto hat oder morgens immer verschläft, hat einen Nachteil. Aber wer isst, trinkt, ein Handy besitzt und pünktlich aufsteht, hat keinen Vorteil, sondern er bewegt sich nur auf einem allgemeinen und jederzeit erreichbaren Standard. Übertragen auf die Personalarbeit bedeutet das: Unternehmen, die ihre Gehaltsabrechnung nicht elektronisch abwickeln, keine komfortable Bewerber-App oder keinen zeitsparenden employee self service anbieten, haben gegenüber ihren Mitbewerbern einen deutlich messbaren Nachteil, denn sie arbeiten weniger effizient und sind weniger attraktiv für Fachkräfte. Wer hier noch Nachholbedarf hat, sollte handeln, keine Frage. Er sollte sich aber auch bewusst machen, dass die digitale Reisekostenabrechnung nicht darüber entscheidet, wer am Markt die Nase vorn hat. Klassenprimus wird der, der den Mut hat, selbst zu gestalten. Strategische Personalarbeit unterstützt deshalb echte Wettbewerbsvorteile, indem sie bei der Auswahl, Führung, Leistungskontrolle, Personalentwicklung und Zusammenarbeit von Menschen die richtigen Weichen stellt.

Technisch machbar, aber innovationsfeindlich

Der Trend in der Digitalisierung der Personalarbeit ist eindeutig: Es kommen immer neue Instrumente auf den Markt, die auch den Bereich der strategischen Personalarbeit betreffen. Das ist theoretisch eine gute Entwicklung und die Verheißungen sind vollmundig, aber was man konkret sieht, macht eher besorgt:

  • Viele dieser Instrumente reden von Autonomie und Empowerment, tatsächlich zielen sie auf die totale Kontrolle der Mitarbeiter.
  • Instant-Feedback-Systeme gehen davon aus, dass eine sofortige Kurskorrektur von Nöten ist, um die Mitarbeiter in die „richtige“ Richtung zu lenken. Abgesehen davon, dass es „die“ Wahrheit in offenen Systemen nicht geben kann: Wenn schon die ersten, noch unausgegorenen Gedanken bewertet werden und jeder experimentelle Schritt überwacht wird, dann kann nichts wachsen. Ein Klima der Beobachtung und Überwachung ist veränderungsfeindlich.
  • Die Personalauswahl ist auf die optimale Übereinstimmung zwischen Anforderungs- und Kandidatenprofil ausgerichtet. Entscheidungshilfen bedienen sich diverser Algorithmen, die auf Vergangenheitsdaten zugreifen, um passgenaue Lösungen für die Gegenwart zu finden, die wiederum die Grundlage für zukünftiges Handeln sein sollen. Im Klartext: Erfolgsfaktoren von gestern sollen Antworten für morgen liefern.
  • Firmen bieten mittlerweile Systeme an, die die Persönlichkeit eines Menschen aus seiner Stimme, seinem Gesicht oder seinen Gesten ableiten, z.B. durch den Abgleich mit entsprechenden Eigenschaften erfolgreicher Manager. Dabei wird übersehen, dass Menschen viele Facetten haben, dass Ihre Taten unterschiedlich bewertet werden – und dass sie sich ändern können. Wie hätte ein digitales System zur Beurteilung von Gesichtszügen oder Stimmmustern wohl Menachem Begin oder Jassir Arafat eingeordnet: als Terroristen oder Friedensnobelpreisträger?

Mehr Möglichkeiten, nicht weniger

Wir glauben nicht, dass digitale Instrumente im strategischen Bereich der Personalarbeit zwangsläufig solchen statischen, mechanistischen und vergangenheitsorientierten Mustern folgen müssen. Aber wer solche Instrumente schafft oder einsetzt, sollte wissen, was er tut. Zum Beispiel können Video-Bewerbungen sehr wohl ein sinnvolles Tool der Personalauswahl sein, aber nicht zwangsläufig, indem sie einen Menschen auf einen definierten Fit hin screenen. Vielmehr könnten sie beiden Seiten – Bewerber wie Teamleiter – die Chance geben, sich persönlich zu erleben. Was vor einigen Jahren noch hohe Reisekosten verschlungen hätte, ist heute dank digitaler Technologie mit ein paar Klicks umsetzbar. Ein weiteres smartes Feature: Statt möglichst gradlinig zu dem einen hundertprozentig passgenauen Kandidaten zu gelangen, könnte der Algorithmus – vergleichbar den assoziativ verbundenen Empfehlungen bei Amazon – zusätzliche Kandidaten vorschlagen. Hier fördert die Digitalisierung Offenheit statt sie über mechanistische Prozesse zu begrenzen.

Anforderungen an strategische Personalarbeit: das Digital HR Manifesto

Empathie, Vertrauen, Freiraum, Verantwortung und Vielfalt sind entscheidende Faktoren für die Wettbewerbsfähigkeit sowie die Innovations- und Veränderungsfähigkeit von Unternehmen. Wir sind überzeugt davon, dass dies nicht im Gegensatz zum Einsatz digitaler Instrumente steht. Aber diese Instrumente müssen so beschaffen sein, dass sie die genannten Erfolgsfaktoren menschlichen Handelns unterstützen, statt sie als Störfaktor beseitigen zu wollen. Oder anders gesagt: Frage nicht, was Du für die Digitalisierung tun musst, sondern was die Digitalisierung für Dich tun kann. Das von uns entwickelte Digital HR Manifesto umfasst deshalb zwölf Anforderungen an digitale Instrumente der strategischen Personalarbeit. Struktur und Stoßrichtung des Digital HR Manifesto orientieren sich an dem 2001 von einer Gruppe Softwareentwickler veröffentlichten Agile Manifesto. Bemerkenswert: Obwohl sie selbst die Treiber der Digitalisierung waren, plädierten die Computer-Experten für eine Stärkung nicht-digitaler Tugenden, ohne dabei die Vorteile digitaler Hilfsmittel aus dem Blick zu verlieren. Das Digital HR Manifesto steht in dieser Tradition.

Goinger Kreis März 2019

Das Digital HR Manifesto ist ein Ergebnis des Arbeitskreises „Digitalisierung und Personalarbeit“ des Goinger Kreises. Der Goinger Kreis versteht sich als Forum und Thinktank für Vordenker und hat sich zum Ziel gesetzt, zu personalpolitischen Fragen mit Bezug zu Gesellschaft, Unternehmen und Wissenschaft Stellung zu beziehen. Weitere Informationen finden Sie auf der Website des Goinger Kreises.